Lernen und Erinnern - Holocaust, Völkermord und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert

Lernen und Erinnern - Holocaust, Völkermord und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung, Braunschweig; Stiftung Topographie des Terrors, Berlin; International Committee of Memorial Museums for the Remembrance of Victims of Public Crimes
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.03.2003 - 15.03.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Helmedach und Verena Radkau, Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung

Der ehemalige israelische Staatspräsident Ezer Weizman hat das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Todes“ bezeichnet. Der Historiker Eric Hobsbawm sprach vom „Jahrhundert der Extreme“ und der Kulturwissenschaftler Zygmunt Bauman vom „Jahrhundert der Lager“. Völkermord und staatliche Gewaltverbrechen haben das vergangene Jahrhundert geprägt wie kein anderes. Als ein „Symbol des Bösen" (Yehuda Bauer) ragt die Shoah, der Holocaust an den europäischen Juden, aus der langen Reihe von Verbrechen hervor. Welchen Beitrag Lernen und Erinnern leisten können, damit diese Reihe sich nicht weiter verlängert, war das zentrale Thema der hier anzuzeigenden Konferenz. Veranstaltet wurde sie vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Braunschweig), der Stiftung Topographie des Terrors (Berlin) und dem International Committee of Memorial Museums for the Remembrance of Victims of Public Crimes; finanzielle Unterstützung leistete das Auswärtige Amt. 33 Referentinnen und Referenten (deren Beiträge zum großen Teil auf der Website des Georg-Eckert-Instituts nachgelesen werden können 1) sowie etwa 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt hatten sich hierzu im Gebäude der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin zusammengefunden.

Dan Diner (Simon-Dubnow-Institut, Universität Leipzig), der in den 1980er Jahren den Begriff vom „Zivilisationsbruch“ geprägt hat, charakterisierte in seinem Einleitungsvortrag zur vergleichenden Genozidforschung den Holocaust als „ultimativen Genozid“, in dem Juden für Christen zu „ultimativen Fremden“ geworden seien und nicht einfach nur zu Opfern einer ethnischen Homogenisierung. Der diesem Konzept inhärente Singularitätsanspruch verhindere jedoch nicht die Möglichkeiten des Vergleichs. Unterschiede gebe es nicht im Schicksal der Einzelnen, denn deren Leiden könnten nicht hierarchisiert werden – womit sich dann auch das Problem erübrigt, das der belgische Historiker Jean-Michel Chaumont „Konkurrenz der Opfer“ genannt hat. Doch der Charakter der Verbrechen präge die Formen der Erinnerung, und damit unterschieden sich die Gesellschaften dadurch, wie sie solche Verbrechen erinnern oder auch vergessen 2.

Die erste Sektion des folgenden Tages („Völkermord im Vergleich“) führte Diners Thema fort, allerdings auf der Ebene konkreter Fallbeispiele. Falk Pingel (Georg-Eckert-Institut) konstatierte einführend, dass in der jetzigen Epoche der Universalisierung und Generalisierung des Holocaust eine Art „Kooperationskultur der Erinnerung“ entstehe, und zwar nicht nur auf der abstrakten Ebene der Suche nach gemeinsamen Antworten auf den Holocaust, sondern auch auf einer sehr konkreten – wie etwa bei der Kooperation der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit mit der Versöhnungskommission in Ruanda.

Fikret Adanır (Universität Bochum) räumte zunächst ein, dass eine adäquate Beschäftigung mit dem Völkermord der Türken an den Armeniern in der Türkei noch ausstehe. Eine solche Beschäftigung müsse Vertreibung, Massaker und Mord als Ergebnis eines „prozessualen Handlungszusammenhanges" verstehen, der aus der tiefgreifenden Transformation des Osmanischen Reiches seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erwachsen sei. Letztlich habe die „Territorialisierung des politischen Bewusstseins" der verschiedenen nationalen Eliten des zerfallenden Reiches jene großen Vertreibungs- und Fluchtwellen ausgelöst, von denen auch viele Muslime unterschiedlicher ethnischer Herkunft betroffen gewesen seien. Die mit deren Zuwanderung nach Anatolien verbundenen Probleme hätten die Bereitschaft der Jungtürken zur Anwendung immer radikalerer Maßnahmen erhöht. Die aus der Historisierung und Erklärung des Genozids an den Armeniern resultierende Verwischung der Differenz zwischen Tätern und Opfern – denn ein Teil der Täter war eben vorher gleichfalls zum Opfer gemacht worden – wurde in der Diskussion über Adanırs Vortrag problematisiert. So kritisierte Yves Ternon, dass Adanır dazu neige, die Verantwortung des jungtürkischen Regimes zu verringern und die der Armenier zu erhöhen. Einigkeit bestand jedoch darin, dass es sich hierbei um einen klaren Fall von Völkermord handle. Dass diese eindeutige Position nicht überall geteilt wird, zeigte Adanırs kritische Schlussbemerkung: „Die öffentliche Meinung in der Türkei ist noch nicht bereit, das Vorhandensein von Völkermord einzusehen.“

Henri Locard (Royal Academy Phnom Penh) bezweifelte die Tauglichkeit des Konzepts „Genozid“, um die Situation in Kambodscha zu erklären. Wie schon Dan Diner wies er darauf hin, dass die Zahl der Getöteten – in Kambodscha fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung von acht Millionen – nicht das entscheidende Konstitutionsmerkmal von Völkermord sei. Locard schlug vor, in diesem Fall von „Politizid“ zu sprechen (in der Diskussion akzeptierte er auch die Bezeichnung „Demozid“). Die Vorgehensweise der Roten Khmer mit ihrer Evakuierung der Städte sei dabei einzigartig für das 20. Jahrhundert. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Einzigartigkeit einer der Gründe dafür ist, dass es bis heute in Kambodscha keinen Versöhnungsprozess nach afrikanischem oder lateinamerikanischen Muster gibt.

Im Mittelpunkt der Ausführungen Jean-Pierre Chrétiens (Centre National de la Recherche Scientifique, Paris) stand die systematische Planung und Durchführung des Völkermords in Ruanda, bei dem drei Viertel der ruandischen Tutsi und viele gemäßigte Hutu ermordet wurden. Diese Massaker verliefen zwar dezentralisiert auf dem Land, waren jedoch bürokratisch organisiert und koordiniert. Keinesfalls handelte es sich um spontane Ausbrüche von Gewalt – auch wenn dies in den Medien und in der Öffentlichkeit im Westen häufig so wahrgenommen wurde. Hier habe ein „ethnographischer Atavismus“ nach dem Schema „die Afrikaner massakrieren sich eben“ den Blick verstellt. Auch Chrétien hinterfragte den Begriff „Völkermord“. Es handle sich um einen eng mit dem Rassismus verbundenen Sophismus. Zugespitzt brachte er diesen Gedanken auf die Schlussformel: „Die Rasse ist in den Köpfen der Täter, nicht auf der Nase der Opfer.“

Die zweite Sektion der Konferenz befasste sich mit dem Thema „Öffentliches Gedenken an Völkermord und staatliche Gewaltverbrechen“, wobei es etwa um die Bedeutsamkeit authentischer Orte für Lern- und Erinnerungsprozesse ging. Thomas Lutz (Stiftung Topographie des Terrors, Berlin) stellte die einleitende Frage, ob man zeitliche Distanz brauche, um ein Thema aufarbeiten zu können. Er nannte das Beispiel Deutschland, wo Gedenken erst institutionalisiert worden sei, als die Täter nicht mehr im Amt waren. Hier kommt einem die provokante These von Daniel Levy und Natan Sznaider 3 in den Sinn, nach der für die Deutschen das, was andere als „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) oder auch als „kommunikatives Beschweigen“ (Lübbe) bezeichnet haben, also eine zeitweilige Amnesie, geradezu notwendig gewesen sei, um mit einer belasteten Vergangenheit umzugehen. Während der Diskussionen wurden die Deutschen übrigens auffallend oft von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem Ausland ob ihrer beispielhaften Erinnerungsarbeit gelobt. Ein Lob, das bei den damit Bedachten eher zwiespältige Gefühle ausgelöst haben dürfte.

Auf dem Podium dieser Sektion saßen Vertreter sehr unterschiedlicher Erinnerungskulturen. Jonathan Webber (University of Birmingham, UNESCO Chair in Jewish and Interfaith Studies) sprach über Möglichkeiten und Grenzen von Gedenkstätten am Beispiel von Auschwitz. Dabei fragte er, was vom Holocaust erinnert werden solle angesichts der Unmöglichkeit, an alle einzelnen Geschehnisse erinnern zu können. In den Gedenkstätten sei nicht nur ein zu geringer Teil der historischen Vorgänge zu sehen, sondern es komme vor allem der Alltag der so schlagartig aus ihrem Leben gerissenen Menschen zu kurz. Außerdem hätten die Gedenkstätten viele, sich teilweise widersprechende Aufgaben zu erfüllen, so z.B. Lernen und Gedenken. Wenn das Auschwitz-Museum als Lernort konzipiert werde, könne es nicht dem Gedenken dienen, denn Lernen geschehe notwendigerweise mit Lärm, Gedenken aber brauche Stille. Ungeklärt seien zudem die Probleme der Konservierung der Gegenstände, die an die ermordeten Juden erinnern. Was davon solle, was könne noch in fünfzig oder hundert Jahren existieren? Webbers Vorschlag war, die Gedenkstätten als die Friedhöfe zu behandeln, die sie wirklich sind. Das hätte sehr konkrete Folgen: So müssten die dem Publikum präsentierten Haare begraben werden, die den weiblichen Gefangenen zur Weiterverwertung abgeschnitten worden waren. Grabsteine mit individuellen Inschriften sollten gesetzt werden können. Man brauche eine Europäische Holocaust-Kommission, die auch alle Plätze des Mordens aufspüren und kennzeichnen müsse, damit die Ermordung von zwei Millionen Menschen durch Massenerschießungen in den Wäldern ein angemessenes Gedenken finden könne.

Auf sehr persönliche Weise brachte Pedro Alejandro Matta (Villa Grimaldi, Santiago de Chile) seiner Zuhörerschaft die Notwendigkeit des Gedenkens nahe. Das „Gesetz des Vergessens“ (la ley del olvido) zu brechen ist für die Opfer von Bürgerkriegen und Militärdiktaturen in Lateinamerika von besonderer Bedeutung. Die Täter, mit denen diese Opfer weiter zusammenleben und sogar die Macht teilen müssen, haben ein starkes Interesse am Vergessen. Hierin ist die Situation derjenigen in Südafrika vergleichbar. Matta sprach als Betroffener der Diktatur von Augusto Pinochet. Er war Studentenführer, als er 1975 verhaftet und für 13 Monate in das Folterzentrum Villa Grimaldi gebracht wurde. Nach seiner Entlassung ging er ins Exil in die USA und kehrte erst 1991 nach Chile zurück. Seither arbeitet er daran, die Erinnerung an den für ihn in besonderer Weise „authentischen“ Ort wach zu halten. Wie er dies tut, hat viele Konferenzteilnehmer nachhaltig beeindruckt. Das Folterzentrum wurde noch während der Militärdiktatur zerstört, um die Erinnerung daran zu tilgen. An seiner Stelle befindet sich heute im „Park des Friedens“ eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer. Auch sie wurde nur möglich dank der Initiative und vor allem der akribischen Recherche von Matta. Mit Hilfe einer Fotosammlung und anderer Archivmaterialien baute er auch ein maßstabgetreues Modell der Villa Grimaldi. Zerlegt hat es in einem Plastikcontainer Platz, den Matta auf seinen Vortragsreisen stets bei sich führt. Aufgebaut erlaubt es, die ganz alltäglichen Stufen der Folter bis hin zur physischen Auslöschung des Opfers zu verfolgen. Pedro Alejandro Matta hat die Tortur überlebt. Dass er sie wieder und wieder für andere erinnert und erzählt, ist Teil seines ganz persönlichen Kampfes gegen das Vergessen.

Der letzte Themenkomplex dieses Konferenztages war der Vermittlung von Holocaust und Völkermord im Schulunterricht gewidmet. Falk Pingel präsentierte seine Ergebnisse einer Untersuchung europäischer Schulgeschichtsbücher. Das Fazit: Die Schulbücher aller einbezogenen Länder West-, Mittel- und Osteuropas stellten zwar einzelne Fälle von Völkermord vor, aber versuchten nicht, diesen Begriff auf einer abstrakteren Ebene zu definieren.

In ruandischen Schulen findet seit 1994 gar kein Unterricht zur Geschichte Ruandas mehr statt, wie Jean-Damascène Gasanabo (Genf) berichtete, der selbst früher in Ruanda als Geschichtslehrer gearbeitet hat. Auch im Ethik- und Staatsbürgerkundeunterricht klaffe eine Lücke. Zwar gebe es Lehrpläne, doch reichen sie als Grundlage zur Entwicklung neuer Schulbücher und Arbeitsmaterialien jenseits von rassistischen Vorurteilen offenbar nicht aus. Hier wünschte man sich, die Aufforderung Jean-Pierre Chrétiens, Ruanda müsse anerkennen, dass sein Erbe vielgestaltig sei, fände ein Echo in den Konzepten ruandischer Curriculumsentwickler und Schulbuchautoren.

Thami Tisani (History Ministerial Committee, Kapstadt) überraschte die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit der Mitteilung, dass in der Euphorie nach dem Sturz des Apartheid-Regimes in Südafrika Stimmen laut geworden seien, die das Fach Geschichte ganz abschaffen wollten. Das Argument der Befürworter dieses Schrittes: Geschichte sei rückwärtsgewandt und darum Zeitverschwendung. Zwar habe die Beseitigung des Geschichtsunterrichts verhindert werden können, doch müsse die Geschichte der Apartheid-Zeit für die Schule noch geschrieben werden.

Carole Reich (Straßburg) informierte über die offiziellen Bestrebungen des Europarates, die ganz unter dem Motto „Nie wieder!“ stünden. In ihrem Schlusswort sagte sie, die Erinnerung dürfe niemals enden, denn nur wenn die Namen der Opfer noch genannt würden, gebe es eine Brücke zu den Lebenden.

Die dritte Sektion war dezentralisierten Workshops gewidmet. Der Workshop „Pädagogische Konzepte“ fand im Haus der Wannsee-Konferenz statt. Die Fragen, die aus dem Kreis der 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Afrika, Europa und den USA gestellt wurden, machten deutlich, wie wichtig es ist, grundlegende Themen anzusprechen: Warum folgten so viele Menschen der Nazi-Ideologie? Welche Faktoren führten vom Antisemitismus zur Shoah? Gab es nicht auch andere Länder, in denen antisemitische Ressentiments mindestens ebenso stark waren wie in Deutschland?

Wolf Kaiser erläuterte die pädagogischen Programme im Haus der Wannseekonferenz, die sich an unterschiedliche Berufsgruppen wie Polizisten, Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Schülergruppen mit verschiedenen Themen richten. Nach dem Konzept des „offenen Raumes“ würden die Anwesenden zu Beginn nach ihren Interessen befragt; darauf aufbauend werde das konkrete Programm entwickelt. Dieser doch sehr spezifische Ansatz hätte den Workshopteilnehmern vielleicht noch plausibler gemacht werden können, wenn sie Gelegenheit gehabt hätten, ihn selbst auszuprobieren.

Am Nachmittag stellte Uwe Bergmeier (Fellowship of Reconciliation, Uganda) seine Arbeit mit ugandischen Jugendgruppen vor. Im Anschluss daran wurde diskutiert, wie die Gegebenheiten vor Ort bei der Entwicklung von Programmen zur Unterstützung von Konfliktlösungs- und Vermittlungsprojekten in einem fremden Land berücksichtigt werden können. Wie lassen sich eurozentrische Perspektiven und naive, unreflektierte Übertragungen vermeiden? Offensichtlich hatte eine Reihe von Teilnehmenden des Workshops in dieser Hinsicht Zweifel.

Eine weitere Gruppe hatte sich in die nördlich von Berlin bei Oranienburg gelegene Gedenkstätte Sachsenhausen begeben, um sich mit dem Thema „Gedenkstätten“ auseinander zu setzen. In dem ehemaligen „Musterkonzentrationslager" überlagern sich die verschiedenen „Schichten" der Geschichte in eigenartiger Weise: Auf das KZ der Nazis folgte in denselben Gebäuden und Baracken ein „Speziallager" des sowjetischen NKWD mit abermals Tausenden von Opfern. Zudem treffen hier auch die verschiedenen Schichten des Gedenkens aufeinander. Wie der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, in seiner Führung erläuterte, soll das Erinnerungskonzept der ehemaligen DDR mit seiner einseitigen Betonung und ideologischen Inanspruchnahme des Widerstands der KZ-Häftlinge sowie dem völligen Verschweigen der sowjetischen Nachnutzung der vorhandenen Infrastruktur als Teil der Geschichte des Lagers Sachsenhausen architektonisch weiterhin sichtbar bleiben.

In zwei Vorträgen wurden im Anschluss an die Führung über das weitläufige Lagergelände weitere Orte des Schreckens behandelt. Der Architekt Leonid Levin (Minsk), der Schöpfer einer Vielzahl von Gedenkstätten in Weißrussland – einem Land, in dem während des Zweiten Weltkrieges wohl jeder vierte, vielleicht aber auch jeder dritte Bürger ums Leben gekommen ist –, berichtete über die Geschichte des Massenvernichtungsortes Trostenez. Die Geschichte dieses Ortes, an dem schon vor dem Krieg und während des laufenden deutschen Einmarsches der NKWD „Verräter" erschossen habe und an dem die Deutschen über eine halbe Million Menschen umgebracht haben, sei nach dem Krieg unter der städtischen Müllkippe der Stadt Minsk begraben worden.

Ivo Goldstein (Universität Zagreb) sprach über das KZ Jasenovac, das nicht nur das größte und am längsten bestehende, nämlich vom April 1941 bis zum Häftlingsaufstand vom April 1945 „betriebene" Konzentrationslager im sogenannten „Unabhängigen Staat Kroatien" war, sondern das zudem wie wohl kein anderes vom serbischen, aber auch vom kroatischen Nationalismus instrumentalisiert worden ist. Seriöse Schätzungen gehen, so Goldstein, von etwa 83.000 bis 90.000 Opfern des Lagers aus. Schon im sozialistischen Jugoslawien aber wurde die „offizielle" Zahl der Opfer immer größer, bis man schließlich von etwa 600.000 bis 700.000 dort ermordeten Serben sprach; nach dem Ende der Titozeit schrieben serbische Nationalisten dann gar von einer Million. Andererseits habe der verstorbene kroatische Präsident Tudjman in einem Buch versucht, in Jasenovac inhaftierte Juden für die Ermordung von serbischen Lagerinsassen verantwortlich zu machen. Noch immer fehle eine Liste der tatsächlich in Jasenovac ermordeten Menschen.

Zwei Workshops besuchten Berliner Schulen. Der erste fand in einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe statt: Die ca. 15 Schülerinnen und Schüler eines Leistungskurses Geschichte diskutierten engagiert und auf hohem Niveau mit Lehrerinnen und Lehrern und ebenfalls etwa 15 Tagungsteilnehmenden. Da sich auf dem Gelände der Schule ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager befindet, das heute Gedenkstätte ist, wird hier das Thema „Nationalsozialismus/Holocaust“ sehr intensiv behandelt. Das kann durchaus zu einem gewissen Überdruss auf Seiten der Lernenden führen. Nach Aussage des Kursleiters könne man dem jedoch durch die Art und Weise begegnen, wie man mit dem Thema umgehe.

Interessant war, dass die meisten Schülerinnen und Schüler keine automatische Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und heutigen Problemen wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus herstellten. Dies sollte Befürwortern eines allzu platten „Gegenwartsbezuges“ zu denken geben. Dennoch ist es kein Zufall, dass auch diese gegenwärtigen Phänomene lebhaft diskutiert wurden, zumal es in der Gruppe mehrere Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft gab, die zum einen ihre ganz eigene Sicht auf das Thema „Nationalsozialismus“ haben und zum anderen von den genannten Gegenwartsproblemen direkt betroffen sind.

Im zweiten Teil dieses Workshops stellte Helmut Meyer (Zürich) sein zusammen mit Peter Gautschi erarbeitetes Lehrwerk „Vergessen oder Erinnern? Völkermord in Geschichte und Gegenwart“ vor. Die Schülerinnen und Schüler hatten das Buch vorher erhalten und beurteilten es positiv, da es Hintergrundinformation biete, die sie vorher nicht kannten. In der Diskussion um das Lehrbuch wurde auch über die Frage gesprochen, ob das Thema „Völkermord“ nicht eine Überforderung darstelle und eine pessimistische Weltsicht vermittle. Dies verneinten die meisten der Lernenden mit der Bemerkung, sie seien bedrückende Bilder aus den Medien gewohnt und könnten mit ihnen umgehen.

Der zweite Workshop begann mit einem Unterrichtsgespräch in einer 10. Klasse der Leonardo-da-Vinci-Oberschule in Berlin. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich im Unterricht intensiv mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigt. Sie kannten die Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz und waren in Majdanek gewesen. In der lebhaften Diskussion konnten sie sachkundig über ihre Eindrücke sprechen, Bezüge zur Gegenwart herstellen, sich aber auch kritisch über die Zumutungen des Themas äußern. Danach diskutierten einige der Schülerinnen und Schüler und Mitglieder des Lehrerkollegiums mit den Workshopteilnehmern über Fragen der Schuldzuweisung und über nationale und europäische Identität im Zusammenhang mit dem Thema Holocaust. Im dritten Teil des Workshops sprach Heike Deckert-Peaceman (Universität Frankfurt a.M.) darüber, was man Kindern beim Thema Holocaust und Völkermord zumuten könne.

Im anschließenden Gespräch ging es unter anderem darum, in welchem Umfang jüdisches Leben vor dem Holocaust im Unterricht behandelt werden solle, ob Auschwitz als Metapher für aktuelle politische Debatten tauge, um die Rolle von Zeitzeugen für die Vermittlung des Themas und um die Notwendigkeit einer verbesserten Lehrerfortbildung. William Fernekes, der sich als Lehrer in den USA für „Holocaust Education“ engagiert, berichtete vom Stellenwert, den der Holocaust im amerikanischen Curriculum hat, und schlug vor, sich auch über die Konferenz hinaus zu der Thematik auszutauschen.

Medien in Konfliktfällen sind bislang kaum Thema ernsthafter Wissenschaft. Frank Chalk (Montreal Institute for Genocide Studies), der den Workshop zur Rolle der „Medien im Krieg“ moderierte, ist einer der wenigen Historiker, die sich damit beschäftigen. Am Beispiel von Kambodscha, Ruanda, Burundi und Kosovo machte er deutlich, welche Funktionen Medien in Bürgerkriegen und Genoziden erfüllen (können): Sie können dazu beitragen, Konflikte zu verschärfen, aber auch diese zu entschärfen bzw. zu verhindern.

Roland Brunner (Medienhilfe Ex-Jugoslawien, Zürich) sprach anhand konkreter Projekte über den Beitrag der Medien zur Versöhnung im ehemaligen Jugoslawien. Nach einem kurzen Abriss darüber, wie Medien generell funktionieren und wie sie für Manipulationen und Propaganda missbraucht werden können, stellte er neun Thesen zur Diskussion, wie Medien zur Aufarbeitung der Vergangenheit im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt werden könnten. Als Kanal für Informationen und Forum für Meinungen seien Medien der Austragungsort gewaltfreier Konfliktbearbeitung und aktiver Konflikttransformation. Die professionellen Medienschaffenden und unabhängige Medien trügen zur Demokratisierung und zur gesellschaftlichen Entwicklung bei.

Brunners Kollegin Nena Skopljanac stellte die Projekte der „Medienhilfe“ sowie anhand eines fünfminütigen Dokumentarfilms die Arbeit der Belgrader Fernseh- und Radiostation RTV B92 vor. Die Medienhilfe unterstütze diese wie andere unabhängige Medien. In einem Dokumentationszentrum würden amtliche Quellen über die Kriege von 1991 bis 1999 gesammelt und auch andere Publikationen und Amateurvideos. Außerdem werde ein wöchentliches Radioprogramm mit dem Titel „Katharsis“ ausgestrahlt; Fernseh- und Dokumentationsfilme würden produziert. Regelmäßig berichte die Station über die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Nena Skopljanac zeigte außerdem einen fünfzehnminütigen Dokumentarfilm über ein Massaker an 20 bosnischen Muslimen. Ziel des Projekts „Independent for Truth“ ist es, Dokumentarfilme durch Lokalsender produzieren zu lassen und in der jeweiligen Region der Öffentlichkeit zu präsentieren. Gesprächsrunden, Leserbriefe etc. sollen die öffentliche Diskussion über die Kriegsverbrechen fördern. Die Bevölkerung soll sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, und die Verbrecher sollen angeklagt werden. An dem Projekt beteiligen sich mehrere Radio- und Fernsehsender aus Ex-Jugoslawien.

Frank Wichert (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung) sprach über die diskursanalytischen Studien seines Instituts zur Berichterstattung in deutschen Zeitungen über den Kosovo und die Zweite Intifada in Palästina. Beim Diskurs „Krieg“ gehe es darum herauszufinden, was das gültige Spektrum des Sagbaren ausmache und wie mit Tabus umgegangen werde, bei der Intifada insbesondere mit dem traditionellen Antisemitismus. Die Studie zum Kosovo zeige, wie die Medien dazu beitrügen, die öffentliche Meinung auf den Krieg „einzustimmen“. Beim Kriegseinsatz deutscher Truppen werde dieser Diskurs mit dem der Normalisierung verbunden („Deutschland ist endlich ein normaler Staat“). Die auf ihre Berichterstattung zur Zweiten Intifada untersuchten Zeitungen verfestigten vorhandene Vorurteile und trügen nicht zu einem wirklichen Verständnis der Konfliktparteien und ihrer Motive bei. In der anschließenden Diskussion ging es unter anderem um die Frage, was verantwortlichen Journalismus kennzeichne und welche Grenzen ihm wirtschaftliche Zwänge und „Fallschirmjournalismus“ (Brunner) à la CNN setzten.

Der Tag endete mit der vierten Sektion zum Thema „Wahrnehmung und Prävention von Völkermord“. Die Zusammensetzung des Podiums war schon deshalb vielversprechend, weil Menschenrechtsaktivisten und Wissenschaftler zusammengekommen waren. Gregory Stanton (Genocide Watch, Washington) erinnerte an die internationale Zustimmung zum „Nie wieder“ nach der Verabschiedung der Völkermord-Konvention durch die Vereinten Nationen 1948. Die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe aus dem „Nie wieder“ ein „Wieder und wieder“ gemacht. Die traurige Bilanz: 170 Millionen Tote durch Völkermord und andere Massaker. Das übersteige die Opfer aller im vergangenen Jahrhundert geführten internationalen Kriege. Angesichts dieser Zahlen drängt sich die ebenso einfache wie folgenschwere Frage Stantons: „Why do we still have genocide?“ förmlich auf. Er zeigte, dass es an sinnvollen Vorschlägen zur Wahrnehmung und Prävention von Völkermord nicht mangelt, und stellte in diesem Zusammenhang das von ihm selbst entwickelte Acht-Stufen-Modell vor 4. Auf jeder Stufe von der Klassifizierung der Bevölkerung (die jedem Genozid vorausgeht) bis zum Morden selbst können demnach präventive Maßnahmen die Entwicklung aufhalten. Wo aber der politische Wille fehle, diese Maßnahmen durchzuführen, könnten auch solche Modelle nichts fruchten. Das habe das Beispiel Ruanda gelehrt. Stanton plädierte deshalb für eine internationale Bewegung ähnlich der Mobilisierung gegen die Sklaverei, um Druck auf die Regierungen ausüben zu können.

Auch Mihran Dabag (Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum) betonte, dass ein Genozid keine Eskalation von Konflikten sei und nichts mit deren Außer-Kontrolle-Geraten zu tun habe, sondern auf der kontrollierten Verwirklichung eines vorgefassten nationalen Planes beruhe. Die Struktureigenschaften der Völkermorde wiesen zwar gesellschaftsübergreifende Charakteristika auf, aber jeder einzelne von ihnen sei ein nationales Verbrechen, das nicht primär für die eigene, sondern für die nachfolgenden Generationen der Tätergesellschaft verwirklicht werde. Entscheidend sei es daher, die Nachfolgegeneration in die Überlegungen zur Prävention mit einzubeziehen. Wenn auch die folgende Generation den Genozid leugne und von seinen Auswirkungen weiter profitiere, sei der Völkermord gleichsam noch nicht abgeschlossen.

Im Blick auf die Konfliktherde in Südosteuropa zog Marie-Janine Calic (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin) die Bilanz der „lessons learned, lessons not learned“. In diesen Tagen, da die ersten 600 identifizierten Opfer von Srebrenica endlich beerdigt werden können, ist das Massaker als „Symbol des Versagens der Staatengemeinschaft“ erneut präsent. Wie Stanton verwies auch Calic bei der Frage nach den Ursachen auf den fehlenden politischen Willen der Akteure bis hinauf zum Weltsicherheitsrat. Wichtiger noch als Prävention sei rechtzeitiges Handeln und die Bereitschaft – ausgehend von einem strukturellen und ganzheitlichen Ansatz –, langfristig in die Zukunft zu investieren.

Volkmar Deile (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Berlin) betonte die zentrale Bedeutung der alltäglichen Menschenrechtsarbeit. Wegen ihrer generalpräventiven Wirkung müsse sie auf allen Ebenen des Stantonschen Modells fortgesetzt werden. „Die Menschenrechtsverletzungen von heute können die Völkermorde von morgen sein.“ Eine positive Wirkung verspricht sich Deile auch vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Vor einem inflationären Gebrauch des Begriffs Völkermord warnte Yves Ternon (Paris). Dieses stark emotional besetzte Wort solle auf der „Stufe von genozidalen Massakern und massenhaften Menschenrechtsverletzungen“ nicht angewandt werden. Mit Blick auf das Acht-Stufen-Modell von Stanton präzisierte Ternon, dass diese Stufen nicht notwendig in einem zeitlichen Nacheinander abliefen, sondern häufig auch gleichzeitig. Deutliche Worte fand Ternon für das gegenwärtige Vorgehen der USA im Irak. Die Nation, die als erste den Vorrang ethischer Prinzipien über die Politik postuliert habe, missachte diesen Vorrang nun selbst.

Die Schriftstellerin Irina Brežná (Basel) engagiert sich für die Opfer eines Völkermords, die nicht nur hierzulande keine starke Lobby haben. In ihrem bewegenden offenen Brief an die tschetschenische Menschenrechtlerin Sainab Gaschajewa beschreibt Brežná den Kampf der tschetschenischen Frauen um das Überleben ihres Volkes. Dabei zeichnet sie keineswegs das traditionelle Bild von Frauen als passiv leidenden Kriegsopfern, sondern von Menschenrechtlerinnen, die ihr Anliegen selbstbewusst auch auf der internationalen Bühne vortragen. Mit seinem Dank an Irena Brežná, „thank you for touching our hearts“, traf Gregory Stanton die Stimmung vieler Teilnehmer. In der anschliessenden Diskussion wurde die Konferenz durch die Beiträge von zwei Tschetscheninnen für einen Augenblick selbst zu dieser internationalen Bühne. Die Wissenschaftler in ihrem Bemühen um klare Definitionen mussten sich die Frage gefallen lassen, ob man bei 500.000 Toten aus einer Gesamtbevölkerung von einer Million denn nun von einem Genozid sprechen könne oder ob „nur“ ein „genozidales Massaker“ vorliege.

Den letzten Konferenztag leitete eine Podiumsdiskussion zum Umgang mit Völkermord und staatlichen Gewaltverbrechen ein, wobei die im Titel deutlich werdende Dichotomie „Verleugnung oder Auseinandersetzung“ die facettenreiche Wirklichkeit der Aufarbeitung wohl nur bedingt trifft. Gerd Hankel (Hamburger Institut für Sozialforschung) skizzierte in seiner Einführung die Entwicklung des Völkerrechts im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschheit von Kant bis zur Gegenwart. Bei der Betrachtung der Möglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofes, bis zu dessen Funktionieren es noch ein weiter Weg sei, war er wesentlich skeptischer als zum Beispiel Volkmar Deile am Vortag.

Fatuma Ndangiza Nyirakobwa (National Unity and Reconciliation Commission, Kigali) berichtete über die Bemühungen ihrer Organisation, die Folgen des Bürgerkrieges in Ruanda aufzuarbeiten. Fortschritte auf dem Weg zur Versöhnung seien bereits gemacht. Die noch aus der Kolonialzeit stammende ethnische Identifizierung sei aus den Pässen verschwunden, der Zugang zu Schulen und öffentlichem Dienst erfolge nach Verdienst. Große Bedeutung werde dem Erziehungssystem beigemessen. Das Curriculum sei überarbeitet worden. Dass auf dieser Basis nicht automatisch neue Lehrmittel entstehen, hatte zwei Konferenztage vorher der Vortrag Gasanabos gezeigt. Dennoch, Versöhnung ist in Ruanda demnach ein institutionalisierter Prozess.

Von diesem Stadium ist Bosnien-Herzegowina noch weit entfernt. Jedoch gibt es, so Jacob Finci (Association Truth and Reconciliation), keine Alternative zur Versöhnung, da Bosnien nur durch einen neuen Krieg geteilt werden könne. Finci setzt sich dafür ein, durch die Aufzeichnung der Erinnerungen einiger tausend Zeugen der letzten zwölf Jahre eine große Datenbasis einzurichten. Alle Beteiligten sollen dabei zu Wort kommen: Opfer, Täter und Retter. Innerhalb von 18 Monaten sollen die Zeugnisse erhoben und danach der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Wolfgang Höpken (Georg-Eckert-Institut) nannte das Motto „Verleugnung oder Auseinandersetzung“ eine Scheinalternative. Ähnlich wie Falk Pingel zu Beginn der Konferenz sprach er davon, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit heute eine Art „globalisierter Verpflichtung“ sei. Von den bisher genannten Instrumenten sei dem Gerichtshof in Den Haag „die bisher weitestgehende Aufarbeitung“ der Kriege im ehemaligen Jugoslawien gelungen. Eine Grenze setze allerdings die „noch immer autistische Perspektive“ der serbischen und kroatischen Gesellschaften, die sich ausschließlich in der Rolle der Opfer sehen – historisch vergleichbar der Wahrnehmung der Tribunale von Nürnberg und Tokyo. Weder in Bosnien, noch in Kroatien, noch in Serbien gebe es zudem den Konsens, man müsse sich versöhnen. Eine Wahrheitskommission sei dann am effektivsten, wenn man eine klare Grenze zwischen Tätern und Opfern ziehen könne. Gerade davon könne aber in Bosnien keine Rede sein. Gegen das Plädoyer Fincis für eine Wahrheitskommission warf Höpken deshalb die Frage auf, ob Hermann Lübbes Konzept eines „kommunikativen Beschweigens“ des Geschehens nicht die bessere Alternative sei. Unter den anderen Diskussionsteilnehmern fand er damit keine Zustimmung. Finci unterstrich, dass man „die bitteren Pillen jetzt nehmen“ solle, und auch Fatuma Ndangiza Nyirakobwa hob nochmals hervor, dass es keine richtige oder falsche Zeit für Versöhnungsprozesse geben könne. Trotz aller ihnen gesetzten Grenzen dürften diese Prozesse nicht verzögert werden.

Auf einer anderen Ebene argumentierte die Tschetschenin Galina Yandarova (Moskau) bei einer Schilderung des Krieges in ihrer Heimat. Ihr wichtigstes Anliegen war es, überhaupt erst einmal Gehör bei der internationalen Zuhörerschaft für die Forderung nach einer Anerkennung dieses Krieges als Völkermord zu finden.

Eric Weitz (University of Minnesota, Twin Cities) hatte die schwierige Aufgabe, aus der Gesamtschau der Konferenz den Abschlusskommentar zu verfassen. Er begann mit einer Kritik an Dan Diners Begriff des „ultimativen Genozids“, den er als „zutiefst problematisch“ bezeichnete. Der Holocaust war, so Weitz, ein Völkermord in der Kette von Völkermorden des 20. Jahrhunderts. Wie jedes historische Ereignis habe er seine Besonderheiten, die auch mit den Besonderheiten der deutschen Geschichte zusammenhingen. Doch der Drang der Nationalsozialisten nach rassischer Homogenität sei leider nichts Besonderes. Wenngleich es gute Gründe dafür gebe, dass der Holocaust eine so herausragende Rolle im westlichen Denken spiele, so rechtfertige dies keinesfalls die Rede von DEM einzigartigen Zivilisationsbruch. Auch die Genozide in Armenien, Ruanda oder Tschetschenien waren und sind, wie Weitz unterstrich, unvorstellbare „Zivilisationsbrüche“. Man werde den Verdacht nicht los, dass Diner mit seinem Ausdruck „Zivilisationsbruch“ die von anderen Forschern postulierte „Einzigartigkeit" des Holocaust erneut in die wissenschaftliche Diskussion bringen wolle – nur in gefälligerer Sprache. „Einzigartigkeit“ sei entweder ein theologischer Begriff (dann gehöre er nicht in die Geschichtswissenschaft) oder eine Banalität (jedes historische Ereignis geschehe in seiner Zeit und wiederhole sich nicht).

Ob sie durch einen Völkermord oder einen anderen Gewaltakt ums Leben gekommen sind, sagte Weitz, sei für die Getöteten ohne Bedeutung. Wir anderen sollten aber genau unterscheiden zwischen „nur“ repressiven Regimen, die Menschenrechte verletzen, und Regimen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch töten. Analytische Unterscheidungen müssten gemacht werden, damit wir im legalen, im präventiven oder auch im pädagogischen Bereich angemessen reagieren könnten. Im Unterschied zu Henri Locard wandte sich Weitz jedoch dagegen, neue Begriffe wie „Politizid“, „Demozid“, „Kulturzid“ etc. einzuführen, die nur verwirrten und die Aussagekraft des Konzepts „Genozid“ schwächten – des einzigen Konzepts zudem, das mit der Völkerrechts-Konvention der Vereinten Nationen rechtlich verbindliche Wirkung habe.

Die „globale Sicht“ auf die Völkermorde des 20. Jahrhunderts, die Weitz einforderte, zeige, dass diese Völkermorde alle „soziale Projekte“ gewesen seien, an denen große Teile der Gesellschaften in unterschiedlichen Funktionen beteiligt waren. Bezüglich der Frage, ob Gesellschaften ohne Genozid möglich seien, wies Weitz darauf hin, dass die verfänglichen Ideologien von Rasse und Nation, die für Völkermorde eine entscheidende Rolle spielen, erfunden und nicht naturgegeben seien. Bis zum späten 14. Jahrhundert habe das Wort „Rasse“ in den europäischen Sprachen gar nicht existiert, und erst im 16. Jahrhundert sei es gebräuchlich geworden. Und die Bedeutung von „Nation“ in unserem heutigen Sinne habe sich erst seit der Französischen Revolution entwickelt. Erst seit der Dekolonisierung, d.h. seit etwa 40 Jahren, sei dieses Konzept universell geworden. Bei solchen Zeiträumen könne man sich doch sein Verschwinden in den nächsten 50 Jahren vorstellen.

Mit der Einrichtung internationaler Gerichte sei ein weiterer Schritt zur Vermeidung von Völkermorden getan. Durch Strafandrohungen und eine wachsende internationale Aufmerksamkeit würden potentielle Völkermörder abgeschreckt. Die Völkerrechtskonvention gewinne nach einem Dornröschenschlaf von rund 40 Jahren ständig an Bedeutung und sollte von den Wissenschaftlern bei allen Schwächen nicht zerredet werden, forderte Weitz. Am Ende seiner Ausführungen schloss er sich der Forderung des früheren tschechischen Präsidenten Václav Havel an, Staaten sollten „viel einfacher und zivilisierter“ werden. Die globale Gemeinschaft und nicht der Nationalstaat sollten der Ort von Souveränität und Quelle und Schutz von Menschenrechten sein. Havels Haltung möge auf den ersten Blick heillos idealistisch erscheinen, doch gelte es zu bedenken, dass der Staat in Verbindung mit Rassismus und Nationalismus die Ursache für Völkermorde und andere massive Menschenrechtsverletzungen geworden sei. Vor diesem Hintergrund sei die Forderung des tschechischen Ex-Präsidenten keine Utopie, sondern ein langfristiges politisches Projekt, dessen Wurzeln eigentlich bis zur Erklärung der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 zurückreichten. Politische Freiheiten und Menschenrechte seien nicht nur die Grundlage einzelner Staaten, sondern auch die der internationalen Gemeinschaft. Die Anstrengungen, die diese zum Beispiel mit den Tribunalen in Den Haag und Arusha und dem Internationalen Strafgerichtshof gemacht habe, in Verbindung mit der Arbeit von Museen, Gedenkstätten und Schulen böten die Gewähr dafür, dass Völkermorde Teil unserer Geschichte und nicht unserer Gegenwart seien.

Aus der Sicht der deutschen Verfasserinnen und Verfasser dieses Tagungsberichts stellte sich Weitz’ Zukunftsvision bei allem globalen Impetus als eine sehr amerikanische dar, allerdings als eine von der Art, wie wir sie in diesen Zeiten gern häufiger hätten. Das Auditorium, das einen anstrengenden Konferenzmarathon mit komplexen und belastenden Themen hinter sich hatte, dankte Weitz für die gelungene Zusammenfassung mit kräftigem Applaus.

Nachtrag
Am Mittwoch, dem 9. April, kurz nach Fertigstellung dieses Berichts, fand trotz der Ereignisse im Irak die Nachricht über ein neues Massaker den Weg auf die Seiten der Tageszeitungen: In dem seit vier Jahren anhaltenden Bürgerkrieg im Kongo (Zahl der Todesopfer bisher 3,3 Millionen) sind nach Berichten einer UN-Beobachterkommission 1.000 Angehörige einer Bevölkerungsgruppe brutal ermordet worden.

Anmerkungen:
1http://www.gei.de/deutsch/aktuelles/lernen.shtml.
2 Zur Vertiefung vgl. Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, S. 195-249 (Kapitel „Kataklysmen: Gedächtnis und Genozid“).
3 Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001.
4 Zu finden unter http://www.genocidewatch.org/8stages.htm.

Kontakt

Andreas Helmedach (helmedach@gei.de), Verena Radkau (radkau@gei.de)

Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung
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D-38114 Braunschweig